1933 - 1938

Von Günther Achatz

Ab dem 16. Oktober 1937 war Hans Litten Gefangener im Konzentrationslager Dachau.

Bis zu diesem Tag hatte er bereits mehr als viereinhalb Jahre Haft in Zuchthäusern, sog. "wilden" Lagern, sowie nationalsozialistischen Konzentrationslagern verbringen müssen.

 

Seine Verhaftung am 28. Februar 1933, dem Abend des Reichstagsbrandes in Berlin, und der darauf folgenden Suspendierung jeglicher Bürger- und Menschenrechte, weißt ihn als "Häftling der ersten Stunde" aus. Prominente Kommunisten, Sozialdemokraten, Bürgerliche und sonstige Vertreter aus Politik, Justiz und allen anderen Bereichen der Gesellschaft waren die frühesten Opfer der nationalsozialistischen "Brandstifter"-Propaganda. Ihre Massenverhaftungen stellten den ersten Schritt der "scheinlegalen" Machtübernahme durch die Nationalsozialisten dar und bildeten gleichzeitig den Auftakt zur Errichtung von zunächst improvisierten "wilden Lagern" außerhalb jeglicher Rechtsstaatlichkeit. Reichsweit waren der Willkür der SS- und SA-Wachmannschaften von Anfang an vor allem die jüdischen unter den tausenden Gefangenen ausgesetzt. Ihre Überlebenschancen waren vom ersten Tag an vergleichsweise geringer.

Die Festungshaftanstalt Berlin-Spandau, das KZ Sonnenburg, das Zuchthaus Brandenburg, das "Moorlager" Esterwegen, die KZ Lichtenburg und Buchenwald hatte Hans Litten bis zu seiner Ankunft in Dachau überlebt.

 

Sonnenburg existierte nur ein Jahr (4/33 bis 4/34) und wurde in einem leerstehenden Zuchthaus bei Küstrin eingerichtet. Es diente als das wichtigste Lager im Einzugsbereich Berlins. Auf Einladung des Preußischen Staatsministeriums fand dort bereits im Mai ´33 eine Propaganda-Besichtigung von Pressevertretern statt, um Gerüchten über massive Misshandlungen seitens der Wachmannschaften entgegenzutreten.

Zum Zweck einer positiven Berichterstattung wurde im von SS und SA inszenierten Häftlingsalltag auch Hans Litten als "Musterhäftling" vorgeführt. Vor diesem Hintergrund verfasst Hans Litten zwei zensierte Postkarten mit beinahe gleichem Wortlaut und erwähnt dabei sein Testament. Tatsächlich waren Gefangene vor den Augen der Zivilbevölkerung von ihren Bewachern brutal zusammengeknüppelt worden. 

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurden auch im Zuchthaus Brandenburg vorwiegend politische Gefangene, „Sicherungsverwahrte“, zum Tode Verurteilte und Gefangene mit teilweise lebenslangen Freiheitsstrafen inhaftiert. Mit der Verschärfung des nationalsozialistischen Terrors gegen politisch Inhaftierte wurde daher 1940 in diesem Zuchthaus auch eine Hinrichtungsstätte installiert. Ab dem 1. August 1940 wurden hier 2.743 Menschen hingerichtet, davon 1.722 aus politischen Gründen. 652 weitere Gefangene kamen durch Krankheiten wie TBC um, sieben Häftlinge durch Suizid. Charakteristisch für das Zuchthaus Brandenburg waren vor allem die katastrophalen hygienischen Verhältnisse sowie die Gewaltexzesse unter den Gefangenen.

Esterwegen zählte zum Verbund der "Emslandlager", fünfzehn an der niederländischen Grenze errichteten Lagern. Mit seiner Inbetriebnahme 1933 zählte Esterwegen zu den ersten reichsweit. Es diente als Strafgefangenenlager und war der Reichsjustizverwaltung unterstellt. Vor allem kommunistische und sozialdemokratische Regimegegner waren hier interniert. Im November ´33 wurde als Kommandant Hans Loritz eingesetzt. Himmler konnte seine Zuständigkeit erweitern und unterstellte sich das Lager Esterwegen förmlich am 21. Juni 1934 - und somit der SS und der IKL. Loritz war zuvor in Dachau Leiter des SS-Hilfswerkes. Seine und Littens Wege kreuzten sich hier zum ersten Mal.

Der Alltag der Häftlinge war von Anfang an vom Ziel der Kultivierung der emsländischen Moore und vor den "Ordnungsvorstellungen" des gescheiterten Augsburger Polizisten Hans´ Loritz bestimmt. Härteste körperliche Arbeit sollte zur "Umerziehung" der Gefangenen beitragen. Die Sterblichkeit in Esterwegen war daher von Beginn an sehr hoch. Spätestens hier dürfte Hans Litten die ganze Brutalität der frühen Formen von "Vernichtung durch Arbeit" mitangesehen und den Terror am eigenen Leib erfahren haben, ebenso wie die Einteilung der überlebensnotwendigen Kräfte und kargen Essensrationen.

Lichtenburg (Kreis Torgau) wurde 1933 als Sammellager für "staatsfeindliche Elemente" eingerichtet. Als Litten nach Lichtenburg verlegt wurde, war das Lager gerade unmittelbar der SS-Herrschaft unterstellt worden und verkörperte damit neben Dachau einen Prototypen unter den Lagern. Gemeinsam mit ca. 500 - 1200 Häftlingen war Litten hier erstmals der "Dachauer Lagerordnung" unterworfen. Sie war dort vom dem Chef der "Inspektion der Konzentrationslager" und Dachauer Kommandanten Theodor Eicke entwickelt worden. Ihr einleitender und zentraler Passus lautete: "Toleranz bedeutet Schwäche!"

Der Häftlingsalltag wurde nun rund um die Uhr minutiös reglementiert; für einen fehlenden Knopf an der Häftlingskleidung wurde die Prügelstrafe, das Baum- bzw. Pfahlhängen oder das Strafstehen ausgesprochen - auch, wenn ein Gefangener zuvor eine Jacke ohne Knopf ausgehändigt bekommen hatte.

Weil Lichtenburg zu einem Frauenlager umfunktioniert wurde, verlegte man Litten nach Buchenwald. Die „Ordnung des Terrors“ zu durchschauen konnte die Überlebenschancen der Häftlinge erhöhen.

 

Buchenwald war das erste der eigentlichen nationalsozialistischen Konzentrationslager, in das Litten deportiert wurde. Erstmals wurde er hier mit einer heterogenen Häftlingsgesellschaft konfrontiert; neben den politischen traf er hier auch auf sog. kriminelle, sog. asoziale, homosexuelle Häftlinge sowie auf die Zeugen Jehovas und sog. Emigranten. Zu Littens Zeit waren in Buchenwald beinahe alle Positionen der Häftlingsselbstverwaltung in den Händen der sog. Kriminellen! Das Überleben des einzelnen Häftlings lag nun nicht mehr in den Händen des jeweiligen Lagerkommandanten oder des Schutzhaftlagerführers, sondern war an die unvorstellbar komplizierten Interessenskonflikte unterschiedlicher Häftlinge aus verschiedenen Haftgruppen sowie an die Hierarchie innerhalb der Baracken gebunden. Jeder Stube von Häftlingen stand ein Stubenältester vor. Die Stubenältesten innerhalb einer Baracke wiederum waren dem Blockältesten unterstellt. Der Blockälteste unterstand dem Blockaufseher - und dieser gehörte der SS an! Er war dem Schutzhaftlgerführer als stellvertretendem Lagerkommandanten verpflichtet. Der Überlebensdruck auf diese sog. "Funktionshäftlinge" war immens! Sie hatten den Ordnungsvorstellungen der Blockaufseher der SS gerecht zu werden und gleichzeitig die Interessen der Mitgefangenen zu vertreten. Dadurch bildeten sie eine personelle Grauzone zwischen Tätern und Opfern. Oft konnten sie ihr eigenes und das Überleben der Mehrheit des Barackenkollektivs nur durch Denunziation eines einzelnen Häftlings bewerkstelligen. Zwischen den einzelnen Häftlingsgruppen entstanden so teils enorme Animositäten, oft Hass! Die sog. Kriminellen spielten hierbei in Buchenwald durch die Besetzung von Schlüsselpositionen eine entscheidende Rolle, denn als "rassisch" verfolgte hatten sie nichts zu verlieren! Eine gesicherte Position in dieser „Hierarchie des Terrors“ zu erlangen, hatte Litten in Buchenwald gelernt und die Kenntnis darüber mit nach Dachau genommen. 

 

Dachau

 

Vor diesem Hintergrund ist der Eindruck eines Dachauer Mithäftlings von Litten am Tag von dessen Ankunft einzuordnen:

„Er war kein Unbekannter für mich, als er in Dachau ankam. 1926 oder 1927 fand ein Treffen des Jugendbundes statt, dem ich damals angehörte. . . In diesem deutsch-jüdischen Wanderbund gab es eine Gruppe, die sich Schwarzer Haufen nannte und die während dieses Treffens aus dem Bund ausgeschlossen wurde, weil die meisten ihrer Mitglieder Kommunisten waren. Einer der bekanntesten Angehörigen war Hans Litten. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wie er aussah, als ich ihn zehn Jahre vorher kennenlernte, aber sein jetziges Aussehen bestürzte mich: da kam ein Mann aus der „Wache“ in den Innenraum des Lagers, der am Stock ging und kaum in der Lage war, den Kopfkissenbezug zu tragen, in dem Neulinge Teller, Löffel, Messer, Gabel, Zahnbürste usw. erhielten.“

 

Litten wurde in Block 6, Stube 3, registriert – dem Judenblock! Blockführer war SS-Oberscharführer Vinzenz Schöttl, der Blockälteste war Heinz Eschen, ein politischer Funktionshäftling und 25jähriger früherer Student, der schon 1933 wegen der Teilnahme an einer antifaschistischen Demonstration verhaftet wurde.

Ein Mithäftling charakterisierte Eschen:

„Als wir von der Arbeit abends zurückkamen, sahen wir unter den Zugängen eine Gestalt, die leicht vornübergebeugt ging, eine Brille trug, die schief saß. Hosen falsch zugeknöpft, den Rock nicht richtig angezogen. . . Heinz Eschen, der nicht nur Blockältester war, sondern auch unter uns Politischen die stärkste Persönlichkeit, setzte sich mit uns nach dem Abendbrot in eine Ecke der Stube und erklärte uns: Wir müssen versuchen Littens momentane Stimmung überbrücken zu helfen. Gebt mir die Klampfe. So begannen wir, nachdem alle schlafen gegangen waren und das Licht aus war, zu singen. . . Landsknechtslieder, Lieder aus der Zeit der Bauernkriege, Soldatenlieder. Litten setzte sich sofort zu uns und sang mit. Nach zwei Stunden hörten wir auf. Jeder von uns hatte den Eindruck, Hans gehörte in unsere Gemeinschaft“!

 

Als Hans Litten in Dachau eintraf, stand das KZ unter der Leitung des Kommandanten Hans Loritz, sein Stellvertreter und Schutzhaftlagerführer war Hermann Baranowski. Das KZ Dachau stand vollständig unter dem Eindruck einer massiven architektonischen Erweiterung im Zuge des geplanten Krieges. Die Bauarbeiten im gesamten KZ-Bereich umfassten sowohl SS-Standort als auch Häftlingslager. Es gab eineinhalb Jahre lang keinen arbeitsfreien Tag. Kommandant Hans Loritz war ein prädestinierter „Massenmörder im Dienste der Volksgemeinschaft“ (Titel der Biografie von Dirk Riedel). Die Häftlingszahl war im Zuge der Erweiterungsarbeiten durch Massenverhaftungen und Verlegungen enorm angestiegen, die Sterblichkeit hatte einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Hans Loritz´ Interpretation der Kommandantschaft ist mit zwei Häftlingserinnerungen zu beschreiben: Kurz vor Littens Überstellung nach Dachau wurde der Häftling Kurt Riesenfeld unter dem Vorwurf, nicht richtig geschaufelt zu haben, in Loritz´ Anwesenheit mehrmals in eine Betonmischmaschine geworfen – bis er starb! Loritz meinte dazu: „Zwei Sack Zement, ein Volljude, eine gute Betonmischung!“ Zum Ende der Lagerumbauten ließ Loritz an Weihnachten 1938 auf dem Appellplatz unter einem eigens aufgestellten Christbaum stundenlang auf mehreren Prügelböcken zahllose Häftlinge unter den Augen aller zum Appell angetretenen Häftlinge fast zu Tode prügeln. Hans Litten dürfte Loritz´ Grausamkeit bereits bekannt gewesen sein – ihre Wege kreuzten sich bereits in Esterwegen, Loritz war dort Kommandant. Hermann Baranowski, Schutzhaftlagerführer und Stellvertreter Loritz´ war zu Littens Zeit Kommandant in Lichtenburg, auch ihre Wege kreuzten sich also schon früher. Theodor Eicke, Chef des KZ-Systems, bescheinigte Baranowski: „übertriebenen und krankhaften Ehrgeiz“, Belehrungen als  „zwecklos“, „mangelndes Fingerspitzengefühl“. Rudolf Höß, späterer Kommandant von Auschwitz, nannte Baranowski sein „Vorbild“. Vinzenz Schöttl war Mitglied der Wachmannschaften des KZ Dachau und SS-Blockaufseher im Block 6. Er durchlief später zahlreiche KZ, die Vernichtungslager Majdanek und Auschwitz III. Heinz Eschen, politischer Häftling und Blockältester in Heinz Eschens Block, unterstand Schöttl direkt.

Schon bei seinem ersten Morgenappell am Tag nach seiner Ankunft geriet Hans Litten mit Baranowski aneinander: Diesem fiel Littens Gehstock auf, woraufhin er anordnete, Hans Litten den Stock zu entziehen. Auf dem Appellplatz brüllte Baranowski Litten an: „Hast Du begriffen, wo Du hier bist? Das ist kein Mädcheninternat. Du bist hier im Konzentrationslager Dachau. Leg den Stock weg! Leg sofort den Stock weg, oder Du bekommst zwei Stunden Baum!“ Litten wusste, das Baranowski es ernst meinte, kannte er ihn doch aus Lichtenburg. Er händigte den Stock einem anderen Häftling aus. Baranowski brüllte: „Und jetzt geh!“. Litten konnte sich kaum auf den Beinen halten, als Baranowski triumphierte: „Da haben wir´s, ihr Juden könnt immer nur lügen!“

Haken, schaufeln, Schubkarren schieben – für die jüdischen Häftlinge gab es nur Beschäftigung in den sog. mörderischen Arbeitskommandos, in denen Arbeit lediglich ein Instrument des Terrors und der Dezimierung der überlebensnotwendigen Kräfte darstellte. Litten brach ständig zusammen. Durch die Häftlingsselbstverwaltung konnten ihm weniger harte Arbeiten zugeteilt werden oder er wurde in weniger bewachte Kommandos eingeteilt. Bis zuletzt arbeitete Hans Litten auf dem Holzplatz.

Einige Zeit nach der Ermordung Kurt Riesenfelds kursierte unter den Häftlingen das Gerücht, der Mord sei in einer französischen Tageszeitung publiziert worden. Kurze Zeit später fühlten sich die Häftlinge von Block 6 bestätigt; die SS gab den „Judenblock“ zur Plünderung durch andere Häftlinge frei. Und unmittelbar danach wurde die bekannte Blocksperre verhängt – völlige Isolation! Litten und alle Mithäftlinge wurden gezwungen, Angehörige über die sofortige Block- und Postsperre zu informieren „wegen Verbreitung von Greuelnachrichten . . . durch die Juden im Ausland!“

Blocksperre, d.h. die völlige Isolierung des Häftlingskollektivs einer Baracke, bedeutete für die Gefangenen extreme räumliche Enge, keinerlei Intims- und Privatsphäre, stickige Luft, vernagelte oder mit Farbe bestrichene Fenster, schlimmste hygienische Bedingungen, Streiterein, Schlägereien und - nicht selten - Suizidgedanken! Jeder kleinste Vorfall mussten Schöttl, dem SS-Blockführer, gemeldet werden. Der Druck auf den Blockältesten Heinz Eschen, innerhalb der Baracke für ein konfliktfreies Klima zu sorgen, war daher unsagbar groß. Eschen hatte längst gelernt, der SS ein befehlsgehorsames Schauspiel zu liefern; sie schätzte seine „militärische Disziplin“, mit der er den Block im Sinne der Lagerordnung zu führen verstand. Die Häftlinge wiederum schätzten Eschen, weil er seine Ausnahmestellung oft zu ihrem Schutz einzubringen wusste – und dafür auch Prügel von der SS in Kauf nehmen musste.

Kaum jemand begriff, dass dies Eschens einzige Überlebensstrategie war – eine lebensbedrohliche Gratwanderung! Die Blocksperre bedeutete für Eschen: Lebensgefahr! Seine erste Aufgabe: besondere Sorge für missmutige und depressive Häftlinge. Fritz Rabinowitsch erinnert sich an einen Auftrag, den Eschen ihm erteilte:

„Eines Abends kam Heinz zu mir und sagte: ´Fritz, heut Nacht von 10.00 bis 2.00 Uhr musst Du Wache schieben´. Heinz war der Auffassung, Litten wolle sich das Leben nehmen“.

Eschen organisierte innerhalb des Blocks Vorträge, Sprachkurse, Unterricht in Naturwissenschaften und vieles mehr. Jeder Häftling sollte sich mit seinen speziellen Kenntnissen, und waren sie noch so banal, einbringen.

Rabinowitsch weiter: „Kaum waren wir aufgestanden und hatten unsere Brühe heruntergeschluckt, so begann Hans mit einigen von uns die deutsche Literaturgeschichte von ihren Anfängen weg zu behandeln. Selbstverständlich zitierte er dabei die betreffenden Schriftsteller seitenlang, ohne die geringste Notiz zu machen. Bis zum Mittagessen behandelte er mit anderen Geschichte. Nachmittags hörte er sich einen Kurs über Psychologie an. Abends dann erzählte er von seinen Streichen als Rechtsanwalt. . . Er lebte in der Isolierung auf!“

Am 30. Januar 1938 wurde Heinz Eschen zur Kommandantur bestellt und von Baranowski und Loritz verhört. Die größte inhaltliche Schnittmenge unter den Erinnerungen enthält folgendes Szenario: Der 45jährige Antibolschewist Waldemar Millner geriet bereits bei einer Blockisolation im August 1937 mit Eschen aneinander. Millner verweigerte sich einer Geldsammlung im Block und musste daraufhin alle Schuhe putzen. Beim folgenden Streit schlug Millner eine Fensterscheibe ein. Eschen war gezwungen, dies dem Blockführer zu melden. Millners Wut auf Eschen wegen der von der SS verhängten Strafe lässt sich erahnen. Er denunzierte Eschen wegen kommunistischer Hetze. Eschen seinerseits hatte sich zuvor bei der Kommandantur wegen der Korruption eines Blockführers beschwert und unbeliebt gemacht. Als dann noch der Vorwurf der sexuellen Handlung durch Eschen mit einem 16jährigen Mithäftling erhoben wurde, hielt Baranowski Abends eine Brandrede in Block 6:

"Es sind mir große Schweinereien aus dem Judenblock gemeldet worden, Arschf . . . ! Wenn die Schuldigen sich nicht freiwillig melden wollen, werden wir sie herausfinden und bestrafen!" Als sich niemand meldete, wurden mehrere Häftlinge "am Baum" verhört. Der 16jährige Hirschfeld gab zu, sexuelle Handlungen mit anderen Häftlingen vollzogen zu haben. Ein Geständnis folgte dem anderen. Ein anderer jugendlicher Häftling hatte gestanden, sich selbst befriedigt zu haben, nachdem Litten ihm über den Kopf streichelte. Eschen wurde daraufhin von der SS abgeführt und im Bunker vernommen. Er überlebte die "Vernehmung" mit zwei Stunden Baumhängen nicht.

Es ist unklar, ob er an den Folgen des Terrors starb oder sich selbst in einer Zelle das Leben nahm. Unmittelbar darauf begannen die "Verhöre" Hans Littens. Am 3. Februar wurde Litten in das Jourhaus gerufen. Nach einer Stunde kam er zur Überraschung seiner Mitgefangenen wieder zurück. Die SS wollte wissen, von wem der revolutionäre Text des Dachau-Liedes stammte. Litten hatte dabei das Schreiben des Liedes (Musik und Text) auf sich genommen, wie sich der Mitgefangene Oskar Winterberger erinnerte. Die SS wollte Litten nicht glauben und kündigte ein weiteres Verhör für den 5. Februar an. Am Morgen des 5.2. fand Alfred Grünebaum Litten erhängt in der Latrine der Stube 3. Der Tod des prominenten Häftlings kam der SS ungelegen.

Zwei weitere prominente Mitgefangene Littens sollten im Auftrag Baranowskis eine Erklärung zum Suizid Littens für die internationale Presse verfassen. Der Lagerarzt konstatierte: Eintritt des Todes am 5. Februar 1938 um 0:10 Uhr. Todesursache: Selbstmord durch Erhängen, keine Spuren von Gewalteinwirkung Dritter.

Littens Mutter Irmgard wurde am selben Tag vom Tod ihres Sohnes unterrichtet. Bei ihrer Verabschiedung von Hans am nächsten Tag in der Kommandantur sah sie ihren Sohn aufgebahrt in einem Sarg, verhüllt in einem Leichentuch. Das Berühren oder Entfernen des Tuches war ihr eindringlich untersagt worden.

Seine letzte Ruhe fand Hans Litten auf dem Friedhof Pankow III in der Abt. UWG.

 

 Günther Achatz (Historiker und Referent in der Gedenkstätte Dachau)